Der Jakobsweg ist vielleicht das bekannteste Wanderwegenetz auf unserem Kontinent, das sich zum Teil mit dem Europäischen Fernwanderweg E3 überschneidet. Im Westen führt er durch die Iberische Halbinsel bis nach Santiago de Compostela. Im Osten verläuft der Fernwanderweg E3 quer durch ganz Bulgarien, auf dem Gebirgskamm des längsten Berges – dem Balkangebirge, zwischen dem westlichsten Gipfel Kom und dem östlichsten Kap Emine am Schwarzen Meer. Es sind alles Wege zur Selbstfindung, zum Geschichte erleben und natürlich ein Stück Heimat kennenlernen.
Ich habe von dieser Route in Bulgarien gehört, als ich dort Urlaub am Meer machte. Ein ziemlich erschöpfter Junge kam mit seinem Fahrrad an und erzählte, dass er etwa eine Woche lang auf der ca. 700 km langen Strecke in einem zum Teil verwilderten Gelände unterwegs war. Diese Geschichte faszinierte mich sehr und die Route wurde für mich zu einer Legende. Kurze Zeit danach bin ich nach Deutschland gegangen, um dort zu studieren. Die Zeit verging schnell und irgendwann tauchte die Erinnerung an Kom-Emine wieder auf. Ich dachte mir, irgendwann möchte ich das machen.
Elf Jahre nachdem ich aus Bulgarien fortgegangen war, war ich endlich soweit. 2012 war der Augenblick für die große Herausforderung gekommen. Nach einem ziemlich guten Winter auf La Palma hatte ich auch keine Zweifel am Erfolg. Bei meinem ersten Versuch mangelte es mir nicht an Training, dennoch musste ich die Tour abbrechen.
Zu meiner Überraschung gab es andere mit einem ähnlichen Plan. In diesem Jahr sollte der erste Supermarathon in Bulgarien stattfinden. Die Strecke verlief auf der Hauptroute von Kom-Emine. Das war meine zweite Chance, denn alleine wollte ich das nicht erleben. Schließlich wurde der Wanderweg von Studenten in den 80ern errichtet und als „Weg der Freundschaft“ bezeichnet.
Es sollte ein komplexer Wettkampf aus Radfahren, Bergsteigen und Orientieren mit zehn Tagesetappen werden.
Nach zahlreichen Merkmalen und Besonderheiten ist die Aufteilung des Gebirges in drei Hauptteile bedingt: West-, Mittel- und Ost-Balkan-Gebirge. Es bietet eine abwechslungsreiche Landschaft und ein ziemlich anspruchsvolles Terrain. Auf der Route von Kom bis Emine sind 18 Gipfel mit Meereshöhe über 2000 zu erklettern. Mit dem höchsten Gipfel Botev (nur 2376 m) ist der Berg zwar nicht hoch aber tückisch. In diesem mittleren, alpinen Teil fallen steile Flanken nach Norden und Süden. Wenn sich eine dicke undurchlässige Decke aus Nebel und Regenwolken ausbreitet, kann der Berg auch jeden erfahrenen Bergmann mit seiner schlechten Laune überraschen. Viele der Teilabschnitte sind nicht kultiviert und selten von Touristen besucht. Die Natur erobert sich ihr Territorium zurück und die alten Pfade verwildern schnell oder verschwinden ganz. Dschungelartige Wälder verschlucken die alten Wegmarken und erschweren das Befahren mit dem Mountainbike. Dagegen verwüsten in anderen Gebieten die Kettensägen erbarmungslos die Hügel und schaffen neue Schlammwege mit verwirrenden Kreuzungen. Wasser, Nahrung und die sommerliche Hitze sind weitere wichtige Faktoren, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Alles in einem kann die Expedition schnell sehr riskant und gefährlich werden. Bei der Wahl der Etappenziele waren folgende Punkte entscheidend: die Länge und Schwierigkeit der einzelnen Gebiete, die Möglichkeit für Hüttenübernachtungen und Zugänglichkeit für den Shuttle, besonders auch Nationalparks und Naturschutzgebiete. So ergaben sich in Summe sieben Hüttenübernachtungen und drei Biwaks. Gewiss sind all diese Zutaten perfekte Bedingungen für ein wahres Erlebnis und eine geeignete Prüfung für Bergerfahrung, Orientierungssinn Ausdauer und einen starken Willen.
Ende August trafen sich alle dreizehn Teilnehmer, darunter Athleten der ersten Stunde, bekannte Sportler der bulgarischen Fahrradszene, ein Läufer und ich, der Bike-Journalist Lyubo Botuscharov, Race-Crew und die Veranstalter Rayko und Lora Stefanovi, in der ersten Hütte unter dem Gipfel Kom. Bohnensuppe, Bier und große Portion Aufregung und Vorfreude. Eine freundliche Stimmung herrschte in dieser Stunde. Die meisten kannten sich untereinander und jeder wusste, bei diesem Rennen geht es um die Herausforderung mit sich selbst und dem Balkan.
Kartenmaterial und GPS-Tracks waren erlaubt. Manche kannten sogar die Teilabschnitte, andere waren noch nie auf diesem Berg gestanden. Der Läufer Ivo Stamboliev aus Sofia sollte zum ersten Mal mit dem Berg in Berührung kommen. Jeder war also unterschiedlich vorbereitet und ausgestattet. Am Vorabend jeder Etappe gab es eine detaillierte Besprechung der Route. Freiwillige einheimische Biker aus den verschiedenen Regionen sollten an Stellen mit besonders schwieriger Orientierung helfen und aber auch die Zeit aufnehmen. An den ersten drei Tagen gab es auch Zeitaufnahme. Sollte jemand diese Zeit nicht schaffen, würde er hohes Risiko bei den schwierigsten Etappen ausgesetzt sein. Das Reglement erlaubte den Veranstaltern, für die Sicherheit der Teilnehmer, sie aus dem Rennen zu nehmen.
Bei Sonnenaufgang am ersten Renntag standen wir alle am Start und wünschten uns, alle gemeinsam am Meer anzukommen.
Traditionell nimmt jeder Tourist zwei kleine Steinchen vom Gipfel mit. Eines als Andenken und das andere wirft man am Ziel ins Meer. Der Startschuss wurde gegeben und alle stürzten sich in einem wilden Wettlauf den schönen Trail herunter. Die ersten zwei Tagesetappen waren praktisch der Warm up. Wir fuhren überwiegend auf Sand-, Schotter- und Asphaltwegen bergab. Und schon hier wurde klar, dass selbst die Schotterpisten verblockter und gröber sind, als ich sie aus den Alpen kenne. Vor der Überquerung der wunderschönen Schlucht des Flusses Iskar schmerzten bereits die Hände. Danach schüttelte mich gewaltig die Auffahrt zur Hütte „Trastena“ auf dem groben Karrenweg ordentlich durch. Die meisten fuhren mit Hardtails, was bei mir großen Respekt und Bewunderung hervorrief, denn die Strecke sollte noch härter werden.
Am zweiten Tag kamen die ersten schwierigen Passagen, steilere Auffahrten und lange Schiebepassagen durch zugewachsenen Wald. Wäre ich zu schnell gefahren und hätte allzu sehr die Schönheit der Landschaft bewundert, hätte es leicht passieren können, dass ich den richtigen Weg verpasst hätte. Als zusätzliche Verführung und Ablenkung findet man ausreichend wilde, süße Brombeeren, an denen man kaum achtlos vorbeifahren kann. Die Streckenposten haben an diesem Tag volle Kühltaschen mit Sportgetränken auf den Berg getragen und die Pause war verdient. Vielen Dank!
Das zweite Etappenziel war ein Denkmal am Rand der Passstraße Botevgrad. Hier war auch der erste Biwak. Mein Zelt blieb im Shuttlebus, denn ich wollte mir die Zeit für das Zusammenbauen in der Früh sparen. Die warme Bohnensuppe mit Wurst und Speck hielt mich die ganze Nacht warm und ich konnte sehr gut unter den Tannenbäumen schlafen.
In der Früh am dritten Tag gab es zunächst eine kleine Verwirrung. Denn alle fuhren wie in einer Traube gegen die grüne Wand aus jungen Tannenbäumen. Aber wo war die Markierung, der Pfad? Alle fuhren suchend zuerst nach links, dann nach rechts. Und plötzlich war sie da, die rot-weiße Markierung. Wie durch einen Zauberspiegel tauchten alle in den Wald hinein und kamen schnell auf den ausgewaschenen Schotterweg. Außer den schnell kleiner werdenden Lichtern konnte ich bis zum Sonnenaufgang nichts erkennen. Bis zur Hälfte dieser Etappe ist die Welt der Räder noch in Ordnung. Doch dann ist der West-Balkan oder der „Große Berg“ zu Ende. Jetzt beginnt der Zentralbalkan mit seinen stolzen 2000dern und somit der Bergsteigerteil. Die Hütte liegt an diesem Tag ca. 500 hm unter dem Etappenziel, für den Shuttlebus nicht erreichbar. Die große Überraschung dieser Etappe ist der extrem verblockte, steile und technische Trail bis zur Hütte. Freude und gleichzeitig Schreck erfüllen den Sinn, denn jeder Tiefenmeter wird am nächsten Tag mühevoll mit dem Rad auf den Schultern wieder hinauf gestiegen. Später beim Abendessen kamen die Wirte nicht mit Kochen hinterher, so hungrig waren alle. In der Hütte herrschte eine unglaubliche Stimmung. Rayko erzählte unermüdlich seine phantastischen und humorvollen Lebensgeschichten, sodass hinterher jeder Muskelkater vom Lachen hatte.
Die nächsten zwei Etappen sind der Höhepunkt des Rennens, da die Strecken extrem lang und zum größten Teil unfahrbar sind. Die meisten Gipfel besteigt man unter der Last des Bikes. Die Belohnung danach sind die ewigen Singletrails. Für eine entsprechende Beschreibung reichen alle Worte der Welt nicht aus. Denn nur wer mit eigener Kraft diesen Berg erlebt hat, über den felsigen Grad geklettert ist, pausenlos die Gipfel im Licht des sommerlichen Sonnenaufgangs erklommen hat, kennt das Glück, das jeder von uns an diesen Tagen empfunden hat. Auch hier stiegen freiwillige Helfer in der Dunkelheit der Nacht auf, um an den Klettersteigen für ein risikofreies und schnelles Begehen zu sorgen. Die Übernachtung nach der längsten Etappe am fünften Tag war in einer sehr gemütlichen Hütte am Rande der Zivilisation.
Von Beginn an bestritten die meisten Teilnehmer jede Etappe mit einer Geschwindigkeit, als ob jeder Tag der letzte sei. Diese Taktik war natürlich fraglich, dennoch lies die Kraft nicht nach. Im Gegenteil, der gut trainierte Körper nahm die Herausforderung an und der Kampf um die ersten Plätze wurde immer härter. Entscheidend waren nicht nur die Fahrtechnik, die Sprintkraft der Athleten, sondern auch der Orientierungssinn. Selbst oberhalb der Baumgrenze, wo der Weg mehr oder weniger aufgrund der Wintermarkierung eindeutig ist, gab es immer wieder Teilnehmer, die sich verlaufen hatten, und so wurde das vordere Feld immer wieder neu gemischt.
Als einzige Frau hatte ich mein eigenes Tempo. Meistens fuhr ich in der Gesellschaft von Nasko und nahm mir Zeit für die traumhaften Berge und die Trails. Oft zog ich auch im Alleingang weiter und genoss die Stille.
Die nächsten 5 Etappen querten die Gebiete des Ost-Balkans. Die Landschaft wechselte spürbar zu schnellen Schotter- oder breiten Waldwegen, vorbei an historischen Monumenten. Die Besonderheit der sechsten Etappe waren die Labyrinthe ohne Wegmarken und der mit Nadeln und Dornen bedeckte Forstweg.
Der Start am siebten Tag fand im dichten Nebel vor Tageseinbruch statt. Die zahlreichen Abzweigungen im Dunkel des tiefen, mystischen Waldes taten ihr Übriges, um die Gruppe auseinander zu reißen. Noch ein Wahnsinnstag mit unendlichen Hügeln auf lange Distanz und vielen Höhenmetern. Doch am Ende wartete zum Glück schon warmes Essen im zweiten Biwak auf alle. An Vortag erwischte mich die Sonne und die Kräfte ließen nach. Zum Glück konnte ich diese Etappe ohne weiteres beenden.
Danach gingen die letzten drei Tage rauschend vorbei. Im Prinzip war es stets das Wichtigste, den Pfad nicht zu verlieren. Nachdem am achten Tag ein Teilnehmer das Rennen abgebrochen hat, erreichten wir das Ziel, Kap Emine. Jetzt blieben nur noch zwei Sachen zu tun, den Stein von der steilen Küste ins Meer zu werfen und baden zu gehen. Das Ergebnis dieser mutigen Unternehmung war ein unglaubliches Erlebnis und ein außergewöhnliches Rennen, das unfallfrei und somit erfolgreich zu Ende ging. Jeder kehrte zu seinem Alltag zurück oder nahm vielleicht bereits das nächste Abenteuer in Angriff.
Für mich war das viel mehr als ein Rennen oder eine Mountainbike-Tour. Ich lernte wunderbare Menschen kennen, erlebte ein ziemlich weites Stück von meiner Heimat. Als Ganzes war das eine der besten Erfahrungen, die ich gemacht habe und ein unvergessliches Abenteuer.
Wer sich auch ohne Hütten-Komfort, bestens präparierte Pisten und Wanderwege und die gut ausgebaute Infrastruktur der mitteleuropäischen Alpen sicher fühlt, der sollte das Balkangebirge erleben. Dies ist eine besondere Mountainbike-Tour minimalistischer Art, die außer guten physischen und mentalen Qualitäten ein hohes Maß an Leidenschaft zum Sport und zum Berg erfordert.
Weitere Eindrücke findet Ihr auf der fb-Seite von Supermarathon Kom-Emine .